Sonderpädagogisches Gutachten 1

 

Gutachten

zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs (gem. § 11 Abs. 1 VO-SF)

Name:

Adresse:

Geburtsdatum:

Staatsangehörigkeit:

Erziehungsberechtigte:

Derzeitiger Förderort:

Gutachter:

Marco Mustermann (Name geändert)

Musterstraße 1, 11111 Musterstadt

xx.xx.1998

deutsch

Maria Mustermann

Sprachheilkindergarten Musterstadt

Maike Brumberg (Lehrerin für Sonderpädagogik) und
Beate Beispiel (Grundschullehrerin)

1. Anlass und Fragestellung

Marco Mustermann, geboren am xx.xx.1998, besucht zur Zeit den Sprachheilkindergarten in Musterstadt und wird zum Schuljahr xxxx/xx schulpflichtig.
Frau Maria Mustermann stellte in Absprache mit den Erzieherinnen des Kindergartens den Antrag auf Ermittlung des sonderpädagogischen Förderbedarfs.

 

2. Verfahrensablauf

06. April Beauftragung der Gutachter
15. April Schulärztliches Gutachten
04. Mai Verhaltensbeobachtung im Kindergarten und Gespräch mit der Erzieherin/ Sprachtherapeutin
25. Mai Durchführung des SON-R 2 ½-7 im Kindergarten
02. Juni Persönliches Gespräch mit der Mutter (Information über die Ergebnisse des Testverfahrens und die Empfehlung der Gutachter)

 

3. Anamnese

3.1 Entwicklung

Marco wurde am xx.xx.1998 als zweites Kind der Familie Mustermann geboren.

Laut schulärztlichem Gutachten wurde Marco nach einer durch Eisenmangel und starkem Nikotinabusus bedingten Risikoschwangerschaft regulär entbunden. Direkt nach der Geburt wurde ein Vorhofseptumdefekt sowie eine periphere Pulmonalstenose festgestellt. Dieser Herzfehler entwickelte sich innerhalb des ersten Lebensjahres spontan zurück.

Aufgrund auffälliger zentraler Koordinationsstörungen bekam Marco schon früh Krankengymnastik nach Voijta. Seine Entwicklung war im sprachlichen stark und im motorischen Bereich leicht verzögert. Im Alter von 12 Monaten konnte Marco krabbeln und 4 Monate später frei laufen. Erste Lalllaute gab er erst mit 2 Jahren von sich.

Marcos Entwicklung auf dem Gebiet der Sauberkeitserziehung ist ebenfalls verzögert. Nächtliches Einnässen kommt regelmäßig vor.

Mit dem zweiten Lebensjahr begann auch die Förderung durch die Frühförderstelle Menden (nach dem Umzug der Familie führte die Frühförderstelle Musterstadt diese weiter), die erst mit dem Besuch des Sprachheilkindergartens langsam aus lief.

Seit August 2002 besucht Marco den Sprachheilkindergarten in Musterstadt.

Dem schulärztlichen Gutachten ist weiterhin zu entnehmen, dass Marco eine Eisenmangelanämie sowie eine Nahrungsmittelunverträglichkeit (Laktasemangel) aufweist, die zu Gedeihstörungen im Sinne von Untergewicht (16,5 kg) und Untermaßigkeit (106 cm) führt.

 

3.2 Familiäre Situation

Marcos familiäre Situation ist als problematisch zu beschreiben. Der Vater, der nach Aussagen der Mutter zu Gewalttaten ihr als auch den Kindern gegenüber neigt, lebt nicht mehr in der Familie. Seit die Mutter eine engere Beziehung zu einem Bekannten pflegt, können bei Marco deutliche Fortschritte im Bereich der sozial-emotionalen Stabilität verzeichnet werden.

Zu Beginn des Überprüfungsverfahrens erhielt Frau Mustermann die Nachricht, dass sie an Krebs leidet. Da sie sofort ins Krankenhaus eingewiesen wurde und dort über 4 Wochen verblieb, war es uns während des Verfahrens nicht möglich, persönlich mit ihr zu sprechen. Nach Angaben der Erzieherinnen war die Unterbringung Marcos während dieser Zeit sehr schwierig. Zuerst war Marco mit seinem Bruder zu Hause und wurde dort von einem älteren Bruder betreut. Am Termin zur Durchführung des SON-R erfuhren wir dann, dass Marco derzeit bei seinem Vater untergebracht ist. Dieser hat wohl nach wie vor das halbe Sorgerecht, aber nach Aussage der Sprachtherapeutin kein Besuchsrecht. Die Erzieherinnen im Kindergarten haben deswegen schon Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen.

Nach Abschluss des Überprüfungsverfahrens war Frau Mustermann dann wieder zu Hause, so dass wir sie in einem abschließenden Gespräch über die Ergebnisse informieren konnten. Dort berichtete Sie noch einmal über die gespannte Situation zwischen ihr und ihrem Ex-Ehemann, der ihr nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus die Kinder nicht freiwillig wieder gab. Das Jugendamt ist jedoch involviert und um eine Lösung bemüht.

 

4. Darstellung der Untersuchungsergebnisse

4.1 Sprache

Marco spricht in 5-8-Wort-Sätzen und ist beim ersten Hören kaum zu verstehen. Dieses ändert sich jedoch, wenn man ihm eine Weile zu- und sich in seine Sprache eingehört hat. Es kommt auf phonetischer Ebene zu vielen Artikulationsfehlern. Es werden Sch/ G/ R/ Ch1/ Ch2/ Zw und K fehlrealisiert. Auch das S wird in der Mittel- und Endstellung nicht richtig gebildet. Das F wird im Inlaut inkonstant ersetzt. Mehrsilbige Wörter reduziert er oder es kommt zu Assimilationen. Auch im phonologischen Bereich treten Probleme auf.

Die Hörgedächtnisspanne ist stark herabgesetzt, so dass selbst kurze Geschichten kaum wieder gegeben werden können.

Die Mundmotorik ist durch eine starke Hypotonie mit teilweise offener Mundhaltung gekennzeichnet. Auch beim Trinken schließt Marco den Mund nicht.

Im Bereich des Sprechens fällt weiterhin auf, dass Syntax und Morphologie stark gestört sind. Oft werden Satzglieder ausgelassen, Deklination und Konjugation sowie der Gebrauch von Numerus und Tempus und Pluralbildung sind sehr unsicher. Der Wortschatz ist sehr gering (Nach Angabe der Sprachtherapeutin erreichte er beim AWST den Prozentrang 0). Trotzdem kann Marco durchaus als sprechfreudig bezeichnet werden. Während der Testsituation benannte er sehr viele Dinge (Puzzelmotive usw.) von sich aus.

 

4.2 Wahrnehmung

Im Bereich der visuellen Wahrnehmung kann Marco Farben und Formen sicher zuordnen. Auch im Bereich der Auge-Hand-Koordination sind keine Schwierigkeiten auffällig.

Die akustische Wahrnehmung weist nach Aussage der Gruppenleiterinnen im Kindergarten deutliche Schwächen auf. In der Untersuchungssituation konnte dieses jedoch nicht festgestellt werden.

Im Bereich der vestibulären Wahrnehmung fielen wieder deutliche Probleme auf. Der gesamte Bewegungsablauf wirkt unsicher, da Marco das Gleichgewicht schlecht halten kann.

 

4.3 Motorik

Marcos motorische Entwicklung ist sowohl im Bereich der Grob- als auch der Feinmotorik förderungsbedürftig.

Sein grobmotorisches Bewegungsverhalten lässt sich als ungestüm bezeichnen. Durch den mangelnden Gleichgewichtssinn läuft er eher in Schlangenlinien als auf gerader Strecke. Auch das einbeinige Stehen und Balancieren ist hierdurch beeinträchtigt.

Die Treppe geht Marco Stufe für Stufe mit dem Nachsetzen des 2. Fußes hoch und auch herunter, wobei er das Geländer als Hilfestellung benutzt.

Während der Beobachtungssituation im Kindergarten baute Marco sehr geschickt eine Höhle aus Decken und Kissen und kletterte anschließend auf ein halbhohes Regal, um von dort aus in die Kissen zu springen. Hierbei wirkte er wiederum sehr sicher.

Marcos feinmotorische Bewegungsabläufe lassen sich auf den ersten Blick als ungelenk beschreiben. Während der Testdurchführung und der Beobachtung im Kindergarten musste er mehrfach aufgefordert werden, die linke Hand zur Unterstützung zu benutzen. Die rechte Hand benutzt er für die meisten Tätigkeiten. Das Puzzeln (im SON-R 2 ½-7) im vorgegebenen Rahmen bereitete ihm anfangs einige Probleme, weil er die rechteckigen Teile nicht in die Ecken des Rahmens schob. Auch hierbei gelang es ihm leichter, als er nach Aufforderung die linke Hand zur Hilfe nahm.

Im Umgang mit einer Schere zeigen sich bei Marco ebenfalls deutliche Schwierigkeiten.

 

4.4 Kognition

Farben, Formen und Mengen im Zahlenraum bis 5 kann Marco ohne Probleme benennen. Während der Vorschularbeit im Kindergarten kann Marco Erfolge für sich verzeichnen. Seine Konzentrationsspanne ist angemessen, sein Aufgabenverständnis jedoch sehr schwach. Dieses spiegelte sich auch bei der Durchführung des SON-R wieder. Aufgabenstellungen mussten deutlich erklärt bzw. vorgeführt werden, so dass Marco sie verstand. Nach der Hälfte der Subtests ließ Marcos Konzentration und Ausdauer merklich nach. Er fragte nach nahezu jeder Aufgabe „Wieviele noch?“ oder sagte „Ich bin müde!“

Nach Aussage der Sprachtherapeutin war Marcos Ergebnis des Bielefelder Screenings (BiSc) sehr schwach. Leider waren hierzu keine Unterlagen auffindbar.

 

Ergebnisse SON-R 2 ½ bis 7

Aus dem Testdatum 25.05.xxxx und dem Geburtsdatum von Marco (xx.xx.1998) lässt sich ein aktuelles Alter von 6;7 Jahren errechnen.
In den verschiedenen Subtests erreichte er die folgenden Ergebnisse: 

Subtest

Rohwert

Referenzalter

Standardwerte

PS

RS

Mosaiken

8

4;7

4

 

Kategorien

8

4;7

 

5

Puzzles

10

5;7

8

 

Analogien

11

6;3

 

9

Situationen

7

4;2

 

5

Zeichenmuster

4

4;0

1

 

Gesamtwerte:

 

 Referenzalter

Standardwerte

 SON-HS

 4;7

 66

 SON-DS

 5;0

 76

 SON-IQ

 4;9

 67

Es ergibt sich als Ergebnis ein SON-IQ von 67, was einem Referenzalter von 4;9 Jahren entspricht.

Es kann abschließend hierzu festgestellt werden, dass Marco im Bereich der Denkskala etwas besser abschneidet als in der Handlungsskala, jedoch kein altersangemessener IQ errechnet wird.

Ergänzend hierzu möchte ich hier darauf hinweisen, dass der SON-R 2 ½ bis 7 bereits im April 2004 von der Sprachtherapeutin im Kindergarten durchgeführt wurde. Damals ergab das Testverfahren einen SON-IQ von 66 (Referenzalter 4;0 Jahre bei aktuellem Alter von 5;6 Jahren).

 

4.5 Sozialverhalten

Marco macht einen fröhlichen und freundlichen Eindruck. Er trat uns fröhlich und offen entgegen und erwartete uns bereits. Zur Testsituation ging er bereitwillig mit uns in einen anderen Raum, wobei er uns stolz den Weg zeigte.

Im Kindergarten nimmt er angemessen Kontakt zu den anderen Kindern der Gruppe auf und spielt mit diesen. Eine Konfliktsituation im Kindergarten während unserer Beobachtung endete darin, dass Marco in die Spielecke ging, mehrere Schälchen ausschüttete und sich dann in einer selbstgebauten Höhle verkroch.

Marco ist ein fester Bestandteil seiner Gruppe.

Das Verhalten Erwachsenen gegenüber ist ebenfalls angemessen. Aufgrund der schwierigen Familiensituation war Marco lange Zeit sehr vorsichtig und ängstlich, was sich jedoch seit einem knappen Jahr (seitdem die Mutter in einer neuen Beziehung lebte) deutlich verändert hat.

Zur Testsituation wirkte Marco von der Grundstimmung her wesentlich unsicherer als zur Beobachtungssituation. Das ist durch die schwierige derzeitige Situation zu Hause (Aufenthalt beim Vater) zu erklären.

 

5. Ergebnisresümee

Marco ist ein sechsjähriger, körperlich nicht altersentsprechend entwickelter Junge (untermaßig und –gewichtig). Auch in den Bereichen Sprache, Wahrnehmung, Kognition, Fein- und Grobmotorik sind zum Teil erhebliche Entwicklungsverzögerungen zu erkennen.

Im Laufe des Überprüfungsverfahrens hat sich gezeigt, dass der primäre Förderbedarf im Bereich der Kognition liegt. Auch die Sprache ist förderungsbedürftig, so dass eine Weiterführung der Sprachtherapie nach der Kindergartenzeit dringend angeraten wird.

Die beschriebene Lernausgangslage erfordert eine sonderpädagogische Förderung mit spezifischen Entwicklungs- und Strukturierungshilfen für eine aktive Lebensbewältigung. Aus diesem Grund empfehlen wir die Einschulung in die Schule für Lernbehinderte (Sonderschule).

Es werden folgende Fördermaßnahmen vorgeschlagen:

 

6. Ergebnis des Gesprächs mit der Erziehungsberechtigten

Frau Mustermann wurde am 02.06.xxxx über den Inhalt des Gutachtens informiert. Sie ist mit der Zuweisung ihres Sohnes Marco zur Schule für Lernbehinderte einverstanden und bereit, weiterhin sprachtherapeutische Förderangebote aufzusuchen.