3. Hyperaktivität

Die Verhaltensauffälligkeit der Hyperaktivität ist in der modernen Literatur ein sehr häufig beschriebener Problemkreis, der sich jedoch durch eine lange Geschichte auszeichnet. Da jedoch viele Forscher, die sich mit dem Störungsbild beschäftigten, eine andere Bezeichnung verwendeten, besteht auch heute noch teilweise Verwirrung bezüglich der Begriffswahl und -bedeutung. Aus diesem Grund wird in diesem Kapitel zuerst auf die Definition der Hyperaktivität eingegangen. Im weiteren Verlauf werden ebenfalls die Prävalenz, die Darstellung der Ursachenforschung in Vergangenheit und Gegenwart, der Verlauf der Störung, die Diagnostik und die Therapiemöglichkeiten erörtert. Abschließend zu diesem Kapitel sollen dann die sonderpädagogischen Konsequenzen und Interventionsmaßnahmen dargestellt werden.

 

3.1 Definition

Die Definition der Hyperaktivität gestaltet sich schwierig, da für diese Störung sehr viele verschiedene Bezeichnungen mit zum Teil unterschiedlichen Inhalten existieren. Daher soll an dieser Stelle auf die gebräuchlichen Ausdrücke für diese Verhaltensauffälligkeit kurz eingegangen werden.

Der Begriff Hyperaktivität wird innerhalb der Gesellschaft heute überwiegend zur Beschreibung aufmerksamkeitsgestörter, motorisch überaktiver, impulsiver Kinder verwendet, obwohl das Wort an sich, in seine Einzelkomponenten zerlegt, nur die motorische Unruhe beschreibt, welche nur ein einzelnes Symptom der Verhaltensauffälligkeit darstellt.

Mit der Bezeichnung Hyperkinetisches Syndrom (kurz: HKS) werden schwere und allgemeine Formen der Hyperaktivität beschrieben, die mit weiteren Entwicklungsrückständen einhergehen. Oftmals wird der Begriff mit dem der Hyperaktivität synonym gebraucht.

Mit dem Begriff Minimale Cerebrale Dysfunktion (kurz: MCD) wurde das Syndrom bis vor wenigen Jahren durchgängig beschrieben. Auch heute noch wird es oftmals verwendet, obwohl durch den Namen die unzutreffende Schlussfolgerung provoziert wird, dass die Hyperaktivität immer das Ergebnis einer hirnorganischen Schädigung, und sei sie noch so klein, darstellt. Viele Forscher sprechen sich schon seit geraumer Zeit deutlich gegen die Verwendung des Begriffs bei hyperaktiven Kindern aus.

Der Ausdruck Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung wird von der American Psychiatric Association im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen DSM-IV verwendet. Man versteht darunter ein "durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivität (...)“ (vgl. DSM-IV 1996, 115).

Die Classification of mental and behavioural disorders (ICD-10) differenziert und benutzt die Bezeichnungen Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktive Störung des Sozialverhaltens. Damit wird zum einen die Kombination von Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität und zum anderen die Störung des Sozialverhaltens als zusätzliches Symptom beschrieben.

Bei Kindern, die vorwiegend durch ihre Unaufmerksamkeit und weniger bzw. nicht durch verstärkte motorische Unruhe, wird teilweise auch von einem Attention Deficit Disorder (Aufmerksamkeits-Defizit-Störung) gesprochen. Dadurch kann nur ein Aspekt der Hyperaktivität berücksichtigt werden, so dass man bei diesen Kindern nicht synonym von hyperaktiven Kindern sprechen kann.

Häufig findet man auch die Vokabel überaktive Kinder, welche als sehr unspezifisch anzusehen ist. KROWATSCHEK verwendet diesen Ausdruck zum Beispiel, um Kinder zu beschreiben, die eine starke motorische Unruhe aufweisen und dadurch Schwierigkeiten in der Aufmerksamkeit und der Ausdauer haben (vgl. KROWATSCHEK 1996, 17).

In dieser Arbeit wird generell vom Begriff der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung ausgegangen, da dieser sehr klar umschrieben ist und im DSM-IV von 1996 dem aktuellen Forschungsstand am nächsten kommt. Es soll aber nicht darauf verzichtet werden, auch die Störung des Sozialverhaltens zu beachten, da diese ein wesentliches Problem hyperaktiver Kinder speziell auch im Unterricht darstellt.

Ausgehend von der Definition des DSM-IV habe ich deshalb eine eigene Definition entwickelt, die eben diese soziale Komponente mit einbezieht:

Diese Definition soll im weiteren Verlauf Grundlage des Begriffs Hyperaktivität und seiner Synonyme sein.

 

3.2 Prävalenz, Kultur-, Alters- und Geschlechtsmerkmale

Über die Häufigkeit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung gibt es viele unterschiedliche Zahlen, so dass man von einer Prävalenz von 2 bis 10 % der Weltbevölkerung ausgehen kann. In den westlichen Industrieländern wird meistens ein größerer Anteil angegeben, was jedoch nicht unbedingt auf ein verstärktes Auftreten, sondern eher auf bessere Diagnosemöglichkeiten und andere Diagnosestandards zurückzuführen ist. Dazu kommt die steigende Popularität des Begriffs, die Eltern und Pädagogen dazu veranlasst, dieser Verhaltensauffälligkeit vermehrt Beachtung zu schenken.

Am häufigsten wird die Diagnose bei Kindern und Jugendlichen im Schulalter gestellt. Das kann damit erklärt werden, dass vor der SCHULZeit eher selten aufmerksamkeits- und konzentrationsfordernde Aufgaben gestellt werden, anhand derer Hyperaktivität generell am deutlichsten erkennbar ist. Im Erwachsenenalter tritt häufig eine Veränderung in der Symptomatik ein, so dass auch in dieser Altersstufe kaum Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen diagnostiziert werden können. Der Verlauf der Verhaltensauffälligkeit wird in Kapitel 3.4 differenziert dargestellt.

Die Auftretenshäufigkeit liegt bei Jungen deutlich höher als bei Mädchen, es wird von einem Verhältnis von 4:1 bis 12:1 berichtet. NEUHAUS erklärt, dass die Symptome der Störung bei Mädchen häufig auf Aufmerksamkeitsstörungen reduziert sind, bzw. dass Impulsivität und Hyperaktivität wesentlich schwächer ausfallen (vgl. NEUHAUS 1996, 74 f.).

Aus dem Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern lassen sich unter Umständen gonosomale Veränderungen als mögliche Ursache ableiten. Auch die Tatsache, dass bei Verwandten ersten Grades und Zwillingen die Symptomatik eher anzutreffen ist, weist auf eine chromosomale Beteiligung hin.

 

3.3 Ursachen

Es gibt sehr viele verschiedene Erklärungsansätze zur Hyperaktivität, die in diesem Kapitel kurz dargestellt werden. Vorher soll aber noch auf die geschichtliche Entwicklung der Forschung auf diesem Gebiet eingegangen werden, damit klar ersichtlich wird, dass Hyperaktivität keine Modeerscheinung unserer Zeit sein kann.

 

3.3.1 Rückblick auf die Forschung hinsichtlich hyperaktiven Verhaltens

Zum ersten Mal wurde das Phänomen Hyperaktivität 1845 von Heinrich Hoffmann, einem deutschen Arzt und Jugendschriftsteller, in seinem Buch Struwwelpeter beschrieben. Die Geschichte vom Zappelphilipp schildert das Verhalten eines hyperaktiven Kindes (siehe Anhang).

Um ca. 1900 beschrieb Dr. George Still in England Kinder, die "willensschwach [sind] mit ernstem Defekt in der moralischen Kontrolliertheit ihres Verhaltens“. Er vermutete eine neurologische Störung als Ursache, konnte diese aber nicht durch Untersuchungen belegen.

Kahn und Cohen dagegen gingen das Problem 1934 bei Erwachsenen an. Sie diagnostizierten eine "organische Getriebenheit mit mangelhafter Impulskontrolle, übertriebener Aktivität und reduzierter Aufmerksamkeitsspanne", wobei sich diese Beschreibung mit den heute anerkannten Primärsymptomen der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung deckt.

Die ersten Forscher, die sich auch mit der Behandlung der Hyperaktivität beschäftigten, waren BRADLey und BRADLey. Diese beschrieben 1937 das „Unruhesyndrom“ und erzielten mit der von ihnen entwickelten Stimulanzienbehandlung sehr gute Erfolge.

Im Jahr 1957 äußerte Lauffer die Vermutung, dass eine Filterschwäche im Stammhirn und die dadurch bedingte übermäßige Reizaufnahme für das Störungsbild verantwortlich ist.

"Eine verminderte Aktivierung im Belohnungssystem des Gehirns“ gab Wender 1970 als mögliche Ursache für Hyperaktivität an. Die betroffenen Kinder haben demnach nicht die Möglichkeit, anhand von Verstärkung richtiges Verhalten zu erlernen und unangemessenes Verhalten abzulegen.

Bereits 1977 prägte Berger in den USA den Begriff "Minimale Cerebrale Dysfunktion“ (original: minimal brain dysfunction), der bis heute in unserem Fachsprachgebrauch vorkommt, obwohl er mittlerweile als überholt gilt.

Virginia Douglas erklärte 1984, dass die Störung auf einen "zentralen Defekt der Selbstregulation“ zurückzuführen sei. Das äußert sich darin, dass die Betroffenen zu wenig Daueraufmerksamkeit und Bereitschaft zur Anstrengung für fordernde Aufgabenstellungen aufbringen können. Außerdem haben sie keine Möglichkeit, ihre Impulse zu hemmen oder zu steuern und ihre Aktivität an situative Anforderungen anzupassen.

Im selben Jahr konnten Lou et al. in Dänemark bei hyperaktiven Kindern eine mangelhafte Blutversorgung des Frontalhirns nachweisen. Hierbei fiel auf, dass die rechte Gehirnhälfte schlecht, die hinteren Hirnregionen dagegen sehr viel besser durchblutet ist.

Chelune untersuchte diese Tatsache weiter und veröffentlichte 1986 die "Frontalhirn-Hypothese“. Demnach ist das Frontalhirn das Steuerungsorgan für Funktionen wie Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung, wo unter Einbeziehung von Gefühlen eingehende Reize selektiert werden. Dort läuft außerdem die Planung von Handlungen, die Impulssteuerung und die Zeiteinschätzung ab. Auch flexible Abwägungen vor einer Handlung werden dort getätigt. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass bei einer Dysfunktion des Frontalhirns die Impulsivität nicht gehemmt und Verhalten nicht ausreichend geplant werden kann.

Seit ca. 1987 wird die Störung auch als "Attention Deficit Disorder" (kurz: ADD) bezeichnet. Als Ursachen werden vorwiegend die mangelnde Hemmungsfunktion des Frontalhirns und ein dysfunktionierendes Neurotransmittersystem angesehen.

Barkley fand 1990 heraus, dass bei Aufgabenstellungen, innerhalb derer unmittelbare Verstärker eingesetzt werden, auch hyperaktive Kinder in der Lage sind, Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum zu halten. Aufgrund dessen stellte er die "Hypothese der mangelnden Motiviertheit auf hirnorganischem Hintergrund“ auf.

Im selben Jahr wies Alan Zametkin nach, dass im Frontalhirn- und im prämotorischen Bereich hyperaktiver Erwachsener nur ein abgeschwächter Glukosestoffwechsel stattfindet. Diese Funktionsstörung machte er für die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung verantwortlich.

Patricia Quinn veröffentlichte 1995 das "Integrationsmodell der neurochemischen und neuroanatomischen Forschungen“. Darin wird eine Dysregulation der Neurotransmitter im Stammhirn als Ursache für Hyperaktivität verstanden. Indem die Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin sich negativ auf die Regulation anderer Neurotransmittersysteme und die funktionelle Reifung anderer Gehirnbereiche auswirkt, wird auch die Funktion des Frontalhirns beeinflusst. Daraus entstehen ein Kontrollverlust über die Impulse des Stammhirns, Ablenkbarkeit, herabgesetzte Daueraufmerksamkeit, gefühlsmäßige Labilität und Hypersensitivität. Obwohl Quinns Hypothese bisher nicht bewiesen ist, hat sie einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad und wird vielerorts anerkannt.

Ebenfalls 1995 äußerte Steinhausen seine Vermutung, dass hyperkinetische Störungen neurobiologisch bedingt sind, jedoch sehr oft ungünstige Umweltfaktoren die Störung verstärken (vgl. NEUHAUS 1996, 47 ff.).

 

3.3.2 Erklärungsansätze zur Entstehung der Hyperaktivität

Die unterschiedlichen Versuche, die Entstehung von Hyperaktivität zu erklären, bilden ein breites Spektrum, welches genetische, organische, ökologische, psychosoziale, lerntheoretische und tiefenpsychologische Faktoren berücksichtigt. Diese sollen im folgenden dargestellt werden:

 

Genetische Faktoren

Für den Einfluss genetischer Faktoren spricht zum einen die Tatsache, dass von der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung mehr Jungen als Mädchen betroffen sind. Dieses kann jedoch, wie bereits in Kapitel 3.2 beschrieben, auch den Grund haben, dass sich die Symptomatik bei Mädchen oft in einer stark abgeschwächten Form zeigt und deshalb nur schwer erkannt wird.

Ein anderer Anhaltspunkt für eine Beteiligung der Chromosomen ist, dass unter Verwandten ersten Grades wesentlich mehr Fälle von Hyperaktivität zu verzeichnen sind als in Familien ohne hyperaktive Mitglieder. Aus der Zwillingsforschung weiß man, dass die Wahrscheinlichkeit einer gleichzeitigen Erkrankung bei eineiigen Zwillingen größer als bei zweieiigen.

Außerdem berichten DÖPFNER et al., dass bei leiblichen Vätern adoptierter hyperaktiver Kinder häufiger antisoziale Persönlichkeitsstörungen und Alkoholismus zu finden sind als bei deren Adoptivvätern (vgl. DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH 1997, 10).

Wenn diese auch nicht die Hauptursache darstellen, kann man doch davon ausgehen, dass genetische Einflüsse bei der Entstehung der Verhaltensauffälligkeit eine Rolle spielen können.

 

Organische Faktoren

Die an dieser Stelle angeführten Erklärungsversuche sind in den meisten Fällen nicht ausreichend untersucht und können deshalb nicht eindeutig als Ursache für die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung anerkannt werden.

Hierzu zählt auch der Erklärungsansatz, bei dem ein Neurotransmittermangel im Gehirn zu den beschriebenen Symptomen führt. Da jedoch weder die Wirkung dieser Stoffe auf den Organismus noch die Auswirkungen des Fehlens dieser Stoffe eindeutig geklärt sind, kann nicht mit Sicherheit von der Gültigkeit der Hypothese ausgegangen werden.

Das gleiche gilt für die Hypothese der Hirn-Verhaltensverschränkung, welche eine Fehlerregung des ZNS aufgrund von Stoffwechselprozessen für das Störungsbild verantwortlich macht.

Die Hirndurchblutungsstörung, besonders die mangelnde Durchblutung des Frontalhirns und die damit einhergehende verminderte cerebrale Aktivität gilt als nachgewiesen. Jedoch kann auch sie nicht als hauptsächlicher Verursacher akzeptiert werden.

Auf die minimale cerebrale Dysfunktion als Ursache wurde in Kapitel 3.3.1 bereits kurz eingegangen. Diese Störung hat prä-, peri- oder postnatale Komplikationen zur Ursache und reduziert die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung auf eine rein organische Störung. Von vielen Seiten wird diese Diagnose abgelehnt, die sich bisher jedoch im deutschen Fachsprachgebrauch teilweise gehalten hat. DÖPFNER et al. bezeichnen die Diagnose MCD als Ursache für Hyperaktivität als "klinisch unbedeutend und irreführend“ (vgl. DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH 1997, 10).

 

Ökologische Faktoren

Auch ökologische Ursachen, also Umwelteinflüsse, können die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung auslösen. Sie sind ebenfalls durchweg unzureichend belegt und können nicht als feststehende, alleinige Ursache anerkannt werden.

Die Blei-Hypothese geht davon aus, dass ein erhöhter Bleigehalt im Blut, den hyperaktive Kinder generell aufweisen, den Gehirnstoffwechsel beeinträchtigen.

In der Farbstoff-Hypothese werden allergische Reaktionen auf Salicylate und künstliche Nahrungsmittelzusätze für die Verhaltensauffälligkeit verantwortlich gemacht. Nachgewiesen wurde ein tatsächlicher Zusammenhang nur bei einer geringen Anzahl von Kindern, die tatsächlich unter Einhaltung einer Farbstoff-Eliminations-Diät symptomfrei wurden. Für die Allgemeinheit der Betroffenen trifft dieses als Ursache nicht zu.

Des weiteren existiert in diesem Zusammenhang die Phosphat-Hypothese, welche allergische Reaktionen auf Nahrungsphosphate beschreibt. Wie bei den anderen Hypothesen liegt aber auch hier kein statistisch signifikanter Zusammenhang vor.

 

Psychosoziale Faktoren

Auch psychosoziale Bedingungen werden für die Entwicklung der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung verantwortlich gemacht. Hierunter versteht man die Lebensverhältnisse und Beziehungen eines Menschen zu anderen. Es wird davon ausgegangen, dass negative ökonomisch-kulturelle Faktoren wie Arbeitslosigkeit, niedriger Sozialstatus und beengte Wohnverhältnisse sowie ungünstige Bedingungen des sozialen Umfelds wie Familie und Schule bzw. Beruf, die Verhaltensauffälligkeit fördern können. Innerhalb der Familie gelten Vernachlässigung, Lieblosigkeit, Eheprobleme und psychische Probleme eines Elternteils als Risikofaktoren. Innerhalb der Schule muss man zu starke Bewegungseinschränkung, Leistungsdruck und Interaktionsprobleme zwischen Lehrer und Schüler sowie zwischen den Schülern als mögliche Ursachen anführen (vgl. VERNOOIJ 1992, 41 ff.). DÖPFNER et al. erklären, dass die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung für die weitere Entwicklung eines hyperaktiven Kindes ausschlaggebend sein kann, jedoch nicht die Ursache der Störung darstellt (DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH 1997, 10).

 

Lerntheoretische Erklärungsansätze

Betrachtet man das Störungsbild aus lerntheoretischer Sicht, so kann man schlussfolgern, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung ebenso wie andere Verhaltensauffälligkeiten eine Folge von Konditionierungsprozessen sein kann. Geht man einmal davon aus, dass ein Kind immer dann Aufmerksamkeit durch den Lehrer erhält, wenn es den Unterricht stört, so wird es dazu übergehen, auffälliges Verhalten jedes Mal zu zeigen, wenn es verstärkt beachtet werden möchte. Hinzu kommt, dass z.B. Zurechtweisungen oder Ermahnungen, eigentlich ja Strafen im Sinne der operanten Konditionierung, hier oft als positive Verstärker wirken, da sie von den betroffenen Kindern der ansonsten ausbleibenden Zuwendung vorgezogen werden.

Auch das Lernen am Modell kann als mögliche Ursache in Betracht gezogen werden, wobei fraglich ist, ob man hyperaktives Verhalten in ausreichendem Maße in seiner Umwelt vorfindet, so dass man es übernehmen kann.

Einzelne Forscher führen Hyperaktivität auf eine Unterstimulation des Kindes zurück und erklären, dass dieses sich mit gesteigerter motorischer Aktivität die fehlenden Reize zuführt.

 

Tiefenpsychologische Erklärungsansätze

Die tiefenpsychologischen Ansätze unterteilt man in die psychoanalytische und die individualpsychologische Sichtweise.

Die Psychoanalyse, deren bedeutsame Vertreter Freud und Bettelheim sind, bezeichnet Verhaltensabweichungen als Symptome tieferliegender unbewusster Konflikte. Diese Konflikte sind in der frühesten Kindheit aus ungelösten Problemen, Versagungen und/ oder Traumata entstanden. Die Hyperaktivität stellt demnach zunächst eine Gegenreaktion der Kinder auf die Ablehnung durch ihre Umwelt und darüber hinaus eine wirkungsvolle Form der Bestrafung der Erwachsenen dar. Für die Kinder selber ermöglicht dieses Verhalten die Illusion, die Umwelt durch verstärkte Aktivität zu kontrollieren. Ohne eine psychotherapeutische Behandlung wird das Kind demnach an seinem Verhalten festhalten.

Die Individualpsychologen sehen die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung als eine psychische Fehlentwicklung an, aufgrund derer das Kind gezwungen ist, nur seine eigenen, unrealistisch verschobenen Vorstellungen anzuerkennen. Diese Psychologen bewerten die Symptomatik gegensätzlich zur allgemeinen Auffassung. Als tatsächliche Zentralsymptome werden Selbstwertprobleme, Teilleistungsstörungen und soziale Schwierigkeiten, als Periphersymptome, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität, emotionale Auffälligkeiten sowie Lernstörungen angeführt.

 

3.4 Merkmale und Verlauf

Mit steigendem Lebensalter hyperaktiver Menschen verändert sich die Symptomatik der Verhaltensauffälligkeit. Bei manchen Erwachsenen löst sich diese komplett auf, was jedoch ohne Therapie nur sehr selten vorkommt. Im folgenden werden die spezifischen Merkmale verschiedener Altersgruppen dargestellt. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die Symptomatik bei jedem Menschen unterschiedlich zusammengesetzt ist und die angeführten Symptome nicht generell bei jedem Betroffenen zu finden sind.

Im Säuglings- und Kleinkindalter kann die Störung normalerweise noch nicht diagnostiziert werden. Befragungen von Eltern ergaben jedoch, dass sich viele rückblickend an eine gesteigerte Aktivität des Kindes sowie Schlaf- und Essprobleme erinnern können. Außerdem fällt auf, dass viele Kinder, bei denen später Hyperaktivität festgestellt wurde, im Babyalter an Koliken litten. Aufgrund eines schon leicht ausgeprägten oppositionellen Verhaltens berichten viele Eltern von einer angespannten Eltern-Kind-Interaktion. Insgesamt können bei vielen Kindern schon zum Ende des Kleinkindalters hin Entwicklungsverzögerungen in der Motorik, der Sprache und der visuellen Wahrnehmung festgestellt werden.

Diese Entwicklungsdefizite lassen sich auch im Kindergarten- und Vorschulalter weiter beobachten, des weiteren fallen hier Probleme in der Feinmotorik auf. Die motorische Unruhe bleibt entweder bestehen oder forciert sich bei vielen Kindern noch weiter. Obwohl auch in diesem Alter die Diagnosestellung noch sehr schwierig ist, fällt im Kindergarten oft schon eine geringe Spielintensität und -dauer auf. Die zwischenmenschlichen Beziehungen zu anderen Kindern und den Erziehern werden oftmals durch oppositionelles und teilweise auch aggressives Verhalten gestört. Ein Phänomen, das bisher noch nicht ausreichend untersucht wurde, ist die Linkshändigkeit, die viele Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung aufweisen.

Der Schuleintritt stellt für alle Kinder einen entscheidenden Schritt dar. Für hyperaktive Kinder bedeutet die SCHULZeit Anforderungen, denen sie meistens nicht gewachsen sind. Das typische Störungsbild zeigt sich in Unruhe, kurzer Aufmerksamkeitsspanne und Ablenkbarkeit. Während vor dem Schulbeginn kaum jemand von den Kindern verlangt hat, längere Zeit still zu sitzen und sich ausdauernd mit einem Gegenstand oder einem Problem zu beschäftigen, stellt dieses den Hauptaspekt des Unterrichts dar. Weil sie dazu nicht in der Lage sind, stören sie häufig den Unterricht und verweigern die Mitarbeit, wodurch sie relative Leistungsschwächen entwickeln. Oftmals müssen solche Kinder Klassen wiederholen oder werden auf Sonderschulen umgeschult. Andererseits berichten viele Eltern, dass ihr Kind gerne zur Schule geht, obwohl es dort nicht besonders gut integriert ist. Im zwischenmenschlichen Bereich fallen sie gegenüber den Pädagogen durch oppositionelles Verhalten und Distanzlosigkeit, gegenüber Gleichaltrigen durch ihre störende Art auf. Im Spiel versuchen Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, die Spielregeln stets so zu modifizieren, dass sie, sollten sie am Spiel bis zum Ende teilnehmen, als Gewinner hervorgehen. Gerade dieses Verhalten wirkt sich nicht förderlich auf die Anerkennung durch ihre Mitschüler aus. Dieses zeigt bei den betroffenen Kindern wiederum Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, das aufgrund der ständigen Ermahnungen von Eltern, Lehrern und anderen Bezugspersonen ohnehin schon geschwächt ist. Viele Kinder beginnen schon in der GrundSCHULZeit mit der Ausbildung aggressiver Verhaltensweisen als Antwort auf das ständige negative Feedback durch Erwachsene.

Auch bei Jugendlichen mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung wird sehr oft von aggressiv-dissozialem Verhalten und außerdem Alkohol- bzw. Drogenmissbrauch berichtet. Die motorische Überaktivität lässt in der Regel deutlich nach, während die Aufmerksamkeitsstörungen anhalten. Aufgrund der Probleme während der gesamten SCHULZeit schließen Jugendliche mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung die Schule meistens mit einem niedrigen Abschluss ab.<

Im Erwachsenenalter lassen die gesteigerte motorische Aktivität und die Unaufmerksamkeit meistens nach, während die Erwachsenen jedoch unter den Folgen ihrer schwierigen Kindheit leiden. Ihr Leben ist oftmals durch niedrigen Berufsstand, dissoziales Verhalten und verminderte soziale Einbindung gekennzeichnet. Aus den genannten Faktoren lässt sich leicht die Ursache für ein vermindertes psychisches Wohlbefinden ableiten (vgl. DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH 1997, 8 f; KROWATSCHEK 1996, 20 f.).

DÖPFNER et al. weisen besonders darauf hin, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung nicht bei jedem Menschen in dieser Form abläuft. Ein ungünstiger Verlauf kann bei Auftreten bestimmter Risikofaktoren, wie z.B. eine geringe Intelligenz des Kindes, aggressives Verhalten im Kindesalter, Fehlen freundschaftlicher Beziehungen zu Gleichaltrigen, emotionale Instabilität und schwerwiegende psychische Störungen der Eltern oder eines Elternteils, vorhergesehen werden (vgl. DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH 1997, 9). Durch gezielte therapeutische und pädagogische Intervention kann der Verlauf jedoch auch zum Positiven hin beeinflusst werden.

 

3.5 Diagnostik

Die Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten wie derAufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung kann anhand der beiden Diagnosestandards DSM-IV und ICD-10 vorgenommen werden. Normalerweise erfolgt die Diagnosestellung durch einen Mediziner, jedoch sollten auch Pädagogen durch die Kenntnis der entsprechenden Kriterien in der Lage sein, erste Hinweise auf eine Störung, wie z.B. die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, zu erkennen und weitere Schritte (z.B. Untersuchung durch den Schularzt, Ansprechen der Eltern) einzuleiten.

An dieser Stelle sollen zuerst die Kriterien des DSM-IV dargestellt und erläutert werden.

 

3.5.1 DSM-IV: Diagnostische Kriterien für die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung

Übersicht 2: Diagnosekriterien der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV

A. Entweder Punkt A.1 oder Punkt A.2 müssen zutreffen:

    A. 1:sechs oder mehr der folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden:

    Unaufmerksamkeit:

    1. beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten,
    2. hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten,
    3. scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere sie/ihn ansprechen,
    4. führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens oder Verständnisschwierigkeiten),
    5. hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren,
    6. vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die längerandauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben),
    7. verliert häufig Gegenstände, die sie/er für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt,
    8. lässt sich öfter durch äußere Reize leicht ablenken,
    9. ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich;

    A.2 sechs (oder mehr) der folgenden Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität sind während der letzten sechs Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen

    Hyperaktivität:

    1. zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum,
    2. steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzen bleiben erwartet wird, häufig auf,
    3. läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben),
    4. hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen,
    5. ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre sie/er „getrieben“,
    6. redet häufig übermäßig viel;

    Impulsivität:

    1. platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist,
    2. kann nur schwer warten, bis sie/er an der Reihe ist,
    3. unterbricht und stört andere häufig.

B. Einige Symptome der Hyperaktivität-Impulsivität oder Unaufmerksamkeit, die Beeinträchtigungen verursachen, treten bereits vor dem Alter von sieben Jahren auf.

C. Beeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z.B. in der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu Hause).

D. Es müssen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit vorhanden sein.

E. Die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden.

       

Die drei Subtypen charakterisieren sich durch folgende Kriterien:

a) Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, Mischtypus:

  • Kriterien A1 und A2 sind erfüllt

b) Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend unaufmerksamer Typus:

  • Kriterium A1 ist erfüllt
  • Kriterium A2 ist nicht erfüllt

c) Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typus:

  • Kriterium A1 ist nicht erfüllt
  • Kriterium A2 ist erfüllt

(DSM-IV 1996, 122 f.)

Innerhalb dieser Diagnosekriterien orientiert man sich vorwiegend an den Merkmalen Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität, welche die drei Primärsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung darstellen. Es müssen jeweils mehrere, zu den Primärsymptomen zugehörige Verhaltensmerkmale ausgebildet sein, damit die Störung festgestellt werden kann.

Besonders wichtig bei der Diagnose ist die Zeitspanne, in der das auffällige Verhalten auftritt. Erscheint hyperaktives Verhalten nur für kurze Zeit, so ist die Möglichkeit der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung, die frühestens nach 6 Monaten gestellt werden kann, nicht möglich.

Auch der Entwicklungsstand des Kindes hat einen großen Stellenwert innerhalb der Diagnosefindung. Anhand der geistigen und körperlichen Entwicklung sind unterschiedliche Maßstäbe an normale Verhaltensweisen zu stellen, so dass z.B. bei einem Kind mit geistiger Behinderung die Norm am Intelligenzalter gemessen wird. Das Intelligenzalter wird am kognitiven Entwicklungsstand des Kindes abgelesen; z.B. das Kind versteht einfache Aufforderungen, das können Kinder ohne Behinderung in der Regel zum Ende des ersten Lebensjahres, das heißt, dass das Intelligenzalter bei ca. 1 Jahr liegt. Das bedeutet, dass z.B. ein fünfjähriges Kind mit einer geistigen Behinderung, dessen Intelligenzalter auf zwei Jahre geschätzt wird, nicht in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit so lange aufrechtzuerhalten wie andere fünfjährige Kinder, sondern mit Kindern im zweiten Lebensjahr verglichen werden muss.

Des weiteren müssen die ersten Symptome der Störung schon vor dem 7. Lebensjahr auftreten. Ein späteres Einsetzen könnte auf eine erworbene psychische Störung hindeuten oder als Reaktion auf bestimmte momentan auftretende Umweltfaktoren gewertet werden. Diese Symptome der frühen Kindheit können auch im Rückblick festgestellt werden, wenn der Diagnostiker die Eltern danach befragt.

Die Verhaltensauffälligkeit muss außerdem in mehreren Lebensbereichen auftreten. Durch dieses Kriterium wird ausgeschlossen, dass die gezeigten Symptome nur als Reaktion auf bestimmte Personen oder ungünstige Bedingungen in einem der Lebensbereiche des Kindes erfolgen. Die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung ist in diesem Fall nicht angemessen. Es sollten jedoch Bemühungen dahingehend angestrengt werden, diese negativen Bedingungen entsprechend zu verbessern. Die Auffälligkeiten in mehreren Lebensbereichen, die gerade erläutert wurden, müssen für die Diagnose funktionelle Beeinträchtigungen mit sich bringen. Stellt man sich ein Kind vor, welches zu Hause motorisch sehr aktiv und impulsiv ist, aber dennoch keine Leistungseinschränkungen im Bereich des sozialen Umgangs aufweist, dann sollte es nicht mittels der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung kategorisiert werden. Es ist jedoch als sehr unwahrscheinlich anzusehen, dass Beeinträchtigungen, wie sie in den Kriterien A.1 und A.2 angeführt werden, vollständig kompensiert werden können, so dass funktionelle Einschränkungen immer zu erwarten sind.

Zuletzt wird noch gefordert, dass die Kinder auf etwaige psychotische Störungen, schwerwiegende Entwicklungsstörungen und Schizophrenien untersucht werden, um herauszufinden, ob die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung nicht als Symptom einer der oben genannten Störungen anzusehen ist. Dann müssen andere Therapieformen, als bei der Hyperaktivität üblich eingesetzt werden, um dem Kind zu helfen.

Im DSM-IV werden außerdem drei Subtypen der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung differenziert. So können Kinder mit unterschiedlichen Störungsschwerpunkten explizit behandelt werden. Selbstverständlich existiert auch ein Mischtypus, der Kinder mit den Eigenschaften hyperaktiv, impulsiv und unaufmerksam beschreibt, welchem der größte Teil der Kinder mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung angehört.

 

3.5.2 ICD-10: F90: Hyperkinetische Störungen – Forschungskriterien

Übersicht 3: Diagnosekriterien der Hyperkinetischen Störungen nach ICD-10

Die Diagnose einer hyperkinetischen Störung erfordert das eindeutige Vorliegen eines abnormen Ausmaßes von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Unruhe, situationsübergreifend und einige Zeit andauernd. Die Störung darf nicht durch andere Störungen wie Autismus oder eine affektive Störung verursacht sein.

G1. Unaufmerksamkeit: Mindestens sechs Monate lang mindestens sechs der folgenden Symptome von Unaufmerksamkeit in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Die Kinder:

  1. sind häufig unaufmerksam gegenüber Details oder machen Sorgfaltsfehler bei den Schularbeiten und sonstigen Arbeiten und Aktivitäten;
  2. sind häufig nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben und beim Spielen aufrechtzuerhalten;
  3. hören häufig scheinbar nicht, was ihnen gesagt wird;
  4. können oft Erklärungen nicht folgen oder ihre Schularbeiten, Aufgaben oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht erfüllen (nicht wegen oppositionellem Verhalten oder weil die Erklärungen nicht verstanden werden);
  5. sind häufig beeinträchtigt, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren;
  6. vermeiden ungeliebte Arbeiten, wie Hausaufgaben, die häufig geistiges Durchhaltevermögen erfordern;
  7. verlieren häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben wichtig sind, z.B. für Schularbeiten, Bleistifte, Bücher, Spielsachen und Werkzeuge;
  8. werden häufig von externen Stimuli abgelenkt;
  9. sind im Verlauf der alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich.

G2. Überaktivität: Mindestens sechs Monate lang mindestens drei der folgenden Symptome von Überaktivität in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Die Kinder:

  1. fuchteln häufig mit Händen und Füßen oder winden sich auf den Sitzen;
  2. verlassen ihren Platz im Klassenraum oder in anderen Situationen, in denen Sitzen bleiben erwartet wird;
  3. laufen häufig herum oder klettern exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen entspricht dem nur ein Unruhegefühl);
  4. sind häufig unnötig laut beim Spielen oder haben Schwierigkeiten bei leisen Freizeitbeschäftigungen;
  5. zeigen ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivitäten, die durch den sozialen Kontakt oder Verbote nicht durchgreifend beeinflussbar sind.

G3. Impulsivität: Mindestens sechs Monate lang mindestens eins der folgenden Symptome von Impulsivität in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß. Die Kinder:

  1. platzen häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist;
  2. können häufig nicht in einer Reihe warten, bis sie bei Spielen oder in Gruppensituationen an die Reihe kommen;
  3. unterbrechen und stören andere häufig (z.B. mischen sie sich ins Gespräch oder Spiel anderer ein);
  4. reden häufig exzessiv ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren.

G4. Beginn der Störung vor dem siebten Lebensjahr

G5. Symptomausprägung: Die Kriterien sollten in mehr als einer Situation erfüllt sein, z.B. sollte die Kombination von Unaufmerksamkeit und Überaktivität sowohl zu Hause als auch in der Schule bestehen oder in der Schule und an einem anderen Ort, wo die Kinder beobachtet werden können, z.B. in der Klinik.

G6. Die Symptome von G1-G3 verursachen deutliches Leiden oder Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit.

G7. Die Störung erfüllt nicht die Kriterien für eine tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84), eine manische Episode (F30), eine depressive Episode (F32) oder eine Angststörung (F41).

(vgl. ICD-10 nach http://www.informatik.fh-luebeck.de/icdger/f90-2.htm)

Vergleicht man die Diagnosekriterien des ICD-10 und des DSM-IV, so stellt sich eine überwiegende Übereinstimmung dar. Es existieren keine unterschiedlichen Symptome der Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität (nach ICD-10: Überaktivität) und Impulsivität, abgesehen davon, dass nach DSM-IV die übermäßige sprachliche Aktivität der Kinder als Symptom der Hyperaktivität und nach ICD-10 als Symptom der Impulsivität anerkannt wird.

Gemeinsamkeiten der beiden Klassifikationssysteme bestehen in den Bedingungen bezüglich Beginn und Situationsunabhängigkeit der Störung. Auch eine funktionelle Beeinträchtigung des Betroffenen und der Ausschluss anderer Störungen zur Erklärung der Symptome wird im DSM-IV und dem ICD-10 gefordert.

Die Differenzierung der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung nach Subtypen erfolgt im DSM-IV anhand der Ausprägung der Kardinalsymptome (vgl. Kapitel 3.5.1). Im ICD-10 dagegen kann eine Unterscheidung in die "einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ und die "hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“ vorgenommen werden.

Insgesamt kann gesagt werden, dass die Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung bzw. Hyperkinetischen Störung eindeutig festgelegt ist, so dass eine Diagnostik anhand einer der Klassifikationssysteme keine Schwierigkeit bereiten sollte.

 

3.5.3 ICD-10: F 84.4: Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien - Forschungskriterien

An dieser Stelle soll noch einmal ausführlich darauf eingegangen werden, dass sowohl das DSM-IV als auch das ICD-10 eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, wie z.B. eine geistige Behinderung, als Ausschlussfaktor für die Diagnose der Hyperaktivität festlegen. Um die Personen mit einer geistigen Behinderung jedoch ebenfalls berücksichtigen zu können, bietet das ICD-10 in der Kategorie 84.0 ("Tiefgreifende Entwicklungsstörungen“) die Diagnosekriterien für die Rubrik F84.4 ("Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien“) an.

Die Kriterien der Kategorie F84.4 werden in der folgenden Übersicht angeführt.

Übersicht 4: Diagnosekriterien der Überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien

A. Schwere motorische Überaktivität mit mindestens zwei der folgenden Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsproblemen:

  1. anhaltende motorische Ruhelosigkeit mit Laufen, Springen und anderen Bewegungen des ganzen Körpers;
  2. deutliche Schwierigkeit, sitzen zu bleiben: die Betroffenen bleiben höchstens wenige Sekunden ruhig sitzen, außer sie sind mit einer stereotypen Tätigkeit beschäftigt (siehe Kriterium B.);
  3. exzessive Aktivität in Situationen, die eigentlich Ruhe erfordern;
  4. sehr schnelle Aktivitätswechsel, so dass einzelne Tätigkeiten weniger als eine Minute dauern (gelegentlich längere Zeitabschnitte mit bevorzugten Aktivitäten sind nicht ausgeschlossen, auch sehr lange Perioden stereotyper Aktivitäten können mit diesem Phänomen, das zu anderen Zeiten vorliegt, vereinbar sein).

B. Repetitives und stereotypes Verhalten mit mindestens einem der folgenden Merkmale:

  1. fixierte und häufig wiederholte motorische Manierismen: dies können komplexe Bewegungen des ganzen Körpers sein oder Teilbewegungen wie Schlagen mit den Händen;
  2. exzessives und nichtfunktionales Wiederholen von stereotypen Aktivitäten: wie Spielen mit einem einzigen Objekt (z.B. fließendes Wasser) oder ritualisierte Aktivitäten (allein oder unter Einbeziehung anderer Menschen);
  3. wiederholte Selbstbeschädigung.

C. IQ unter 50

D. Kein Vorliegen des autistischen Typs sozialer Beeinträchtigung, d.h. das Kind muss mindestens drei der folgenden Verhaltensweisen zeigen:

  1. entwicklungsgemäßer Gebrauch von Augenkontakt, Ausdruck und Haltung zur Regulation sozialer Interaktion;
  2. entwicklungsgemäße Beziehungen zu Gleichaltrigen mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten etc.;
  3. Kontaktaufnahme mit anderen Personen, wenigstens gelegentliche Suche nach Trost und Zuneigung bei anderen;
  4. manchmal wird die Freude anderer geteilt. Andere Formen sozialer Beeinträchtigung, wie z.B. ungehemmtes Zugehen auf Fremde, sind mit der Diagnose vereinbar.

E. Die Kriterien für Autismus (F84, F84.1), für die desintegrative Störung im Kindesalter (F84.3) oder für hyperkinetische Störungen (F90) werden nicht erfüllt.

(vgl. ICD-10 nach http://www.informatik.fh-luebeck.de/icdger/f84-4.htm)

Anhand dieser Diagnosekriterien erhält man die Möglichkeit, die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung auch bei Kindern mit geistiger Behinderung festzustellen. Es ist sicherlich nicht realisierbar, alle Kinder mit geistiger Behinderung in dieser Weise zu klassifizieren, es wird jedoch zumindest ein Orientierungsrahmen angeboten.

 

3.6 Therapiemöglichkeiten

Für die Behandlung hyperaktiver Kinder gibt es zahlreiche Therapieformen, die im folgenden kurz dargestellt werden sollen:

 

Psychopharmaka-/ Stimulanzienbehandlung

Die Therapieform, die bisher am besten untersucht wurde, ist die Pharmaka- bzw. Stimulanzienbehandlung hyperaktiver Kinder. Schon 1937 behandelte BRADLey hyperaktive Kinder mit Psychostimulanzien und erzielte damit große Erfolge (siehe Kapitel 3.3.1).

Auch heute werden fast ausschließlich Psychostimulanzien wie z.B. das Medikament Ritalin, aber teilweise auch Antidepressiva verwendet. Auf das Medikament Ritalin an sich wird in Kapitel 5.5.1 noch genauer eingegangen. An dieser Stelle jedoch soll schon einmal darauf hingewiesen werden, dass die Primärsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung durch Stimulanzien vermindert und teilweise sogar aufgehoben werden. Den Kindern werden dadurch bessere Entfaltungsmöglichkeiten gegeben und ein Leben ermöglicht, in dem sie unter anderem mehr Erfolgserlebnisse und das Gefühl, „normal“ zu sein, erfahren können. Dieses bietet einen Ansatzpunkt für pädagogische Intervention, die in Kapitel 3.8 ausführlicher dargestellt wird.

Die Rate der Kinder ab dem fünften Lebensjahr, die positiv auf Stimulanzien reagieren, liegt bei 70 bis 90 %, während bei ca. 50 % der Kinder unter 5 Jahren Behandlungserfolge erzielt werden können. Ca. 10 bis 30 % der Kinder mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung reagieren nicht oder mit einer Verschlechterung der Symptomatik auf eine Stimulanzientherapie.

Die Behandlung muss allerdings immer als Langzeittherapie durchgeführt werden, da nach Absetzen der Medikation die Effekte unmittelbar wieder nachlassen. Bisher ist jedoch noch kein Fall von Abhängigkeit hyperaktiver Kinder von Stimulanzien bekannt, auch wenn Erwachsene mit anderen Störungsbildern eine solche entwickeln können.

Die genaue Wirkungsweise der Medikamente auf die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung ist bis heute noch nicht ausreichend bekannt. Es existiert unter anderem die Theorie, dass Stimulanzien den Gehirnstoffwechsel normalisieren, so dass das Kind von alleine „wacher“ wird und sich nicht durch ständige Bewegungen Reize zuführen muss. Von anderer Seite wird angenommen, dass die Medikamente die Produktion bestimmter Neurotransmitter, die im Frontal- und Stammhirn hemmend wirken, steigern, so dass das Kind nicht ständig auf jeden Reiz reagieren muss. Eine dritte Theorie besagt, dass die Blutversorgung im Gehirn verbessert wird und somit auch die Glukosekonzentration, die von einigen Forschern als Ursache für die Entstehung der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung angesehen wird.

Insgesamt kann man sagen, dass die Psychopharmakotherapie, vor allem die mit Stimulanzien, gute Erfolge verzeichnet. Es wird jedoch immer wieder darauf hingewiesen, dass eine multimodale Behandlung, das bedeutet die Kombination zweier oder mehrerer Behandlungsformen, die bessere Alternative ist. Die Pharmakotherapie eignet sich hervorragend als Kombinationspartner, oft ist sie sogar notwendig, um das Kind zur Teilnahme an einer anderen (z.B. verhaltenstherapeutischen) Therapie zu befähigen.

 

Kognitive Verhaltenstherapie

Die kognitive Verhaltenstherapie differenziert sich in verschiedene Behandlungsmethoden und Trainings auf, die hier nur kurz erläutert werden sollen.

Die Grundtechniken der Verhaltensmodifikation, vor allem das Prinzip der Verstärkung, können in der Therapiesituation, im Elternhaus oder in der Schule eingesetzt werden.

Es existieren zwei Möglichkeiten der Verstärkung, nämlich die positive und die negative Verstärkung. Die positive Verstärkung sieht eine Belohnung unauffälligen Verhaltens vor, die in der Form von zur-Kenntnis-nehmen, von Zuwendung oder auch als materielle Belohnung erfolgen kann. Eine negative Verstärkung dagegen kann man durch den Entzug eines für den Betroffenen negativen Ereignisses erreichen. Im Umgang mit einem hyperaktiven Kind kann durch Verstärkung zumindest eine langsame, teilweise Verhaltensänderung erreicht werden. Zu diesem Zweck eignen sich z.B. Verstärkerpläne, wie die Punkte-Schlange (Anhang Seite XIX). Sie werden gemeinsam mit dem Kind erstellt und erlauben diesem, selbst auf sein Verhalten achten zu können und es langsam und schrittweise zu ändern. Um das Kind nicht zu überfordern, wird auf jedem Verstärkerplan nur eine auffällige Verhaltensweise notiert, die verändert oder abgebaut werden sollte.

Weiterhin können auch komplexere verhaltenstherapeutische Maßnahmen ergriffen werden, wie z.B. das Problemlösetraining. Das Kind lernt hierbei, Problemsituationen wahrzunehmen, eine positive Bereitschaft zur Problemlösung zu entwickeln, Lösungsmöglichkeiten zu suchen und sich zuletzt für eine Problemlösungsmöglichkeit zu entscheiden. Nach der Reaktion auf das Problem soll das Kind diese dann kritisch bewerten, um beim nächsten Mal noch besser handeln zu können. Dieses Problemlösetraining wird zunächst in der therapeutischen Situation durchgeführt, in der das Kind aber dazu angeleitet wird, auch in seinem sozialen Umfeld danach vorzugehen. In Hinsicht auf die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung lernt das Kind, impulsive Reaktionen abzubauen und statt dessen reflektiert zu handeln. Bei erfolgreicher Bewältigung von Konfliktsituationen wird das Selbstbewusstsein des Kindes langsam wieder aufgebaut und gestärkt. Kritische Situationen bringen das Kind im Laufe der Zeit nicht mehr so schnell in Aufruhr und wirken somit auch auf das hyperaktive Verhalten ein (vgl. VERNOOIJ 1992, 75 f.).

Eine weitere Therapieform ist die Methode der Selbstinstruktion nach Meichenbaum. Sie zielt ebenfalls auf die Verbesserung des Problemlöseverhaltens und außerdem der Aufmerksamkeit und der Impulskontrolle ab. Zu Beginn der Therapie fungiert der Therapeut als Modell. Er kommentiert jeden Schritt einer Handlung, die er ausführt und gibt sich dabei selbst Handlungsanweisungen. Das Kind führt im nächsten Schritt dieselbe Handlung aus, während der Therapeut die Anweisungen gibt. Danach wird das Kind aufgefordert, sich selbst deutlich hörbar die nötigen Handlungsanweisungen zu geben. Diese werden dann langsam ausgeblendet, bis sich das Kind diese Anweisungen nur noch in Gedanken gibt. Auf diesem Weg lernt das Kind, mit Konfliktsituationen umzugehen und diese zu meistern (vgl. DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH 1997, 41 f.).

Eine etwas schwierigere Methode ist die des Selbstmanagements. Der Therapeut leitet hierbei das Kind an, in seiner natürlichen Umgebung auf die eigenen Verhaltensprobleme zu achten und angemessen darauf zu reagieren. Als Hilfestellung werden bestimmte Regeln festgelegt, an die das Kind sich dabei halten soll. Häufig wird diese verhaltenstherapeutische Maßnahme mit operanter Konditionierung (also Verstärkungsmaßnahmen) kombiniert (vgl. DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH 1997, 42). Es ist nun an dieser Stelle festzuhalten, dass diese Form der Verhaltensmodifikation nur bei Kindern angewendet werden kann, die in der Lage sind, Problemsituationen zu erkennen und das eigene Verhalten zu analysieren.

Bei Kindern mit Symptomen der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung im Alter von 3 bis 6 Jahren wird oftmals ein Spieltraining durchgeführt, welches die Steigerung der Spielintensität und –dauer zum Ziel hat (vgl. DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH 1997, 42). Dadurch wird die Ausdauer und Aufmerksamkeit des Kindes schon sehr früh trainiert und seine Entwicklung damit oftmals positiv beeinflusst.

 

Diät

Wie bereits bei der Ursachenforschung in Kapitel 3.3.2 erklärt wurde, werden auch Nahrungsmittel und Nahrungsmittelzusätze für die Hyperaktivität verantwortlich gemacht. Dementsprechend wurden viele verschiedene Diäten entwickelt, von denen hier aber nur die beiden bekanntesten angeführt werden können.

Die Kaiser-Permanent-Diät (kurz: KP-Diät) nach Feingold bezieht sich auf die Auffassung, dass künstliche Aroma- und Farbstoffzusätze und natürlich vorkommende Salicylate die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung verursachen. Bei dieser Diät werden sehr viele tiefgekühlte und/ oder in der Fabrik hergestellte Nahrungsmittel sowie die meisten Früchte gemieden. Obwohl nur bei einer sehr kleinen Zahl von Kindern ein Zusammenhang zwischen der Nahrung und der Verhaltensauffälligkeit nachgewiesen werden kann, bessert sich das Verhalten in vielen Fällen. Dieses kann aber auch auf die veränderte Position des Kindes in der Familie zurückgeführt werden, deren Mitglieder nun zum einen anerkennen müssen, dass nicht das Kind selbst, sondern Nahrungsmittel für die Auffälligkeit verantwortlich sind und zum anderen mehr auf das Kind eingehen, indem sie die Eßgewohnheiten speziell für das Kind umstellen (Aufmerksamkeitszuwachs!). Es wird jedoch davor gewarnt, eine so einseitige Diät ohne Einbeziehung eines Arztes oder eines Diätassistenten anzuwenden, da langfristig die Gefahr von Ernährungsdefiziten besteht (vgl. VERNOOIJ 1992, 81 f.).

Die phosphatreduzierte Diät nach Hertha Hafer führt die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung auf anorganische Phosphate in der Nahrung zurück. Die Kinder leiden demnach unter einer Insuffizienz des Noradrenalin-Stoffwechsels und reagieren auf Phosphate mit einer metabolischen Alkalose, die wiederum zur Hyperaktivität führt. Innerhalb der Diät müssen die Kinder z.B. auf Milchprodukte, Coca-Cola, viele Fruchtsäfte, Malzbier, Haferprodukte, Schokolade und vieles mehr verzichten. Auch diese Form der Diät gilt als sehr gefährlich, weil durch eine Reduktion der Phosphataufnahme unter einen bestimmten Level schwere Gesundheitsschädigungen ausgelöst werden können (vgl. VERNOOIJ 1992, 83).

 

Entspannungstechniken

Es existieren viele Formen von Entspannungstechniken, die hier an dieser Stelle jedoch nicht näher angeführt werden, da sie gleichzeitig einen wesentlichen Teil der pädagogischen Intervention darstellen (siehe Kapitel 3.8). Bekannt ist allerdings, dass sich Entspannung, sofern sie in einem angepassten zeitlichen Rahmen erfolgt, sehr positiv auf die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung auswirkt. Fast ebenso wichtig wie Entspannungsphasen sind für das Kind jedoch auch "Tobe-Phasen“.

 

3.7 (Sonder-) Pädagogische Schlussfolgerungen

Auch in der Schule für Geistigbehinderte fallen Kinder mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung verstärkt auf. Nach SPECK gehen viele Formen der geistigen Behinderung mit "psychiatrischen Störungen im engeren Sinne“ wie z.B. Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen einher (vgl. SPECK 1997, 46). Daraus lässt sich ableiten, dass die Behandlung dieser Thematik auch in Hinsicht auf die Schule für Geistigbehinderte von großer Bedeutung ist. Kinder mit einer geistigen Behinderung zeigen ohnehin häufig Symptome wie Ablenkbarkeit, kurze Aufmerksamkeitsspanne und motorische Unruhe, so dass die Diagnostizierung der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung hier deutlich erschwert ist. Wie in Kapitel 3.5.2 bereits dargelegt wurde, bietet das ICD-10 für diesen Fall eine Orientierungsmöglichkeit an. An dieser Stelle sollte auf jeden Fall deutlich sein, dass demnach bei Kindern mit geistiger Behinderung ein verstärktes Auftreten der Primärsymptome notwendig ist, um von Hyperaktivität im eigentlichen Sinne zu sprechen.

Für den Unterricht bedeuten hyperaktive Kinder konkret übermäßige Störungen, die auch die Leistungsfähigkeit der Mitschüler, die in ihrer kognitiven Entwicklung ebenfalls beeinträchtigt sind, einschränken. Es müssen dementsprechend Unterrichtskonzepte und Strategien eingesetzt werden, die diese Tatsachen berücksichtigen, um einen möglichst störungsarmen Unterrichtsverlauf zu gewährleisten.

 

3.8 Spezielle pädagogische Interventionsmaßnahmen bei hyperaktiven Schülern

In diesem Kapitel sollen verschiedene pädagogische Programme vorgestellt werden, die im Umgang mit hyperaktiven Kindern in der Schule für Geistigbehinderte Anwendung finden. Zusätzlich zu diesen Programmen werden in der Regel die in Kapitel 3.6 angeführten verhaltenstherapeutischen Maßnahmen und das in Kapitel 2.2.3 beschriebene Situationsmanagement eingesetzt.

An dieser Stelle soll zuerst das Trainingsprogramm für überaktive Kinder in der Schule von KROWATSCHEK vorgestellt werden, bevor auch die pädagogischen Interventionsmöglichkeiten innerhalb des Therapieprogramms für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) nach DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH und Entspannungstechniken Berücksichtigung finden.

 

KROWATSCHEKs Trainingsprogramm für überaktive Kinder in der Schule (nach KROWATSCHEK 1996)

KROWATSCHEK entwickelte vor einigen Jahren ein Trainingsprogramm für Kinder mit gesteigerter Aktivität, um auch Pädagogen die Möglichkeit der Hilfe und Intervention zu geben. Er berücksichtigt darin jedoch nicht die Kinder mit geistiger Behinderung und Überaktivität, sondern bezieht sich ausschließlich auf Kinder der Regelschule. Die Hauptziele, die mit dem Programm bei diesen Kindern erreicht werden sollen, sind

Das Training ist nicht ausschließlich auf die überaktiven Kinder einer Schulklasse anwendbar, sondern stellt auch für die nicht betroffenen Kinder einen positiven Lerneffekt dar.

KROWATSCHEK empfiehlt, das Programm über einen Zeitraum von zwei Jahren mit dem Regelunterricht verflochten durchzuführen, da die einzelnen Übungen aufgrund ihrer Themenvielfalt und Variationsmöglichkeiten ohne Probleme in den Allgemeinunterricht integriert werden können. Die Zielgruppe der Übungen sind Kinder im Alter von 9 bis 16 Jahren.

Innerhalb des Trainings wird auf verhaltenstherapeutische Modifikationsmethoden wie z.B. Verstärkerpläne, Ignorieren und Time-Out, auf Elemente der Gestaltpsychologie z.B. Geschichten erfinden und Malen, auf Entspannungsmethoden und auf Elemente aus der Rational-Emotiven Therapie nach Ellis zurückgegriffen.

Die Rational-Emotive Therapie nach Ellis geht davon aus, dass emotionale Störungen "nicht in erster Linie durch externe Ereignisse sondern durch sogenannte irrationale Gedanken, Einstellungen und Bewertungen in Bezug auf die Wirklichkeit“ (KROWATSCHEK 1996, 35) entstehen. Dementsprechend haben viele Kinder drei zentrale irrationale Vorstellungen, die zu Hyperaktivität führen oder beitragen können:

Diese Einstellungen können eine negative Selbsteinschätzung der Kinder bewirken und somit weitere Verhaltensprobleme nach sich ziehen bzw. die bestehenden verstärken. Aus diesem Grund ist es notwendig, diese irrationalen Vorstellungen zu kennen, zu beachten und zu versuchen, sie im Laufe der Zeit abzubauen.

Das Training umfasst 40 Experimente, die in der vorgegebenen Reihenfolge durchgeführt werden sollten, da sie teilweise aufeinander aufbauen.

Für den Einsatz in der Schule für Geistigbehinderte muss das Programm bzw. seine Experimente modifiziert werden. Es können nicht alle Experimente durchgeführt werden, da sehr häufig die Fähigkeit des Schreibens verlangt wird und viele Experimente sehr umfangreich sind. Im Anhang dieser Arbeit werden einige, für den Unterricht in der Schule für Geistigbehinderte modifizierte Experimente dargestellt.

Es lässt sich zu diesem Trainingsprogramm sagen, dass es auf den ersten Blick nicht wie eine spezielle Interventionsform bei hyperaktiven Kindern erscheint. Vielmehr ist es eine Art Sozialtraining, in dem die eigene und die zwischenmenschliche Akzeptanz den Schwerpunkt bilden. Es ist unbestritten, dass die Experimente auch für überaktive Schüler einen positiven Effekt haben, doch die individuellen Verhaltensauffälligkeiten der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung an sich werden lediglich durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen beeinflusst. Ein wesentlicher Beitrag dieses Konzepts ist jedoch die Integration hyperaktiver Kinder in den Klassenverband, da das Programm die Mitschüler in ihrer Akzeptanz, schwächeren oder auffälligen Schülern gegenüber stärkt.

 

Pädagogische Intervention innerhalb des Therapieprogramms für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten nach DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH

Das Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) sieht eine gleichzeitige kind-, familien- und kindergarten- bzw. SCHULZentrierte Intervention vor. Innerhalb der Schule liegt die Hauptproblematik darin, dass sich der Pädagoge immer dann dem Kind zuwendet, wenn es den Unterricht stört oder auffällig ist und in Situationen, in denen sich das Kind ruhig und kooperativ verhält, erfährt es Ignoration. Das ist durchaus verständlich, da der Lehrer in dieser Lage das unauffällige Verhalten nicht stören und unterbrechen möchte. Allerdings erfährt das Kind dadurch, wie in Kapitel 3.3.2 (Lerntheoretische Erklärungsansätze) bereits beschrieben wurde, eine positive Verstärkung des auffälligen und eine Bestrafung des unauffälligen Benehmens nach den Prinzipien des operanten Konditionierens.

Die Autoren schlagen vor, zuerst die Struktur des Schulalltags grundlegend zu verändern, um dem betroffenen Schüler den Umgang zu erleichtern. Das bedeutet, dass das schulische Umfeld an die individuellen Bedürfnisse des Schülers angepasst wird. Der Klassenraum wird dazu in verschiedene Funktionsbereiche aufgeteilt, so dass ein Teil des Raums für den Unterricht an sich reserviert wird und des weiteren z.B. eine Spielecke, eine Ruheecke und eine Freiarbeitsecke abgetrennt werden. Durch entsprechend abgrenzende Möbelstücke soll erreicht werden, dass der hyperaktive Schüler nicht durch den gesamten Raum „tobt“, sondern statt dessen innerhalb der gerade genutzten Bereiche bleibt.

Innerhalb des eigentlichen Unterrichts sollte das betroffene Kind einen sorgfältig ausgewählten Sitzplatz einnehmen. Dieser sollte relativ vorne sein, so dass der Pädagoge schnell eingreifen kann und das Kind unter ständiger Beobachtung hat. Des weiteren ist ein Platz am Fenster sehr ungünstig, da das Kind durch Geräusche oder Geschehnisse von draußen leicht abgelenkt werden kann. Es wird empfohlen, innerhalb der Klasse Kinder auszuwählen, die modellhaft auf den betroffenen Schüler wirken können und die Sitzordnung darauf abzustimmen.

Der gesamte Tagesablauf wird stärker strukturiert, da ein Kind mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung für sein eigenes Sicherheitsgefühl scharfe Grenzen benötigt. Zu viele Freiräume verunsichern das Kind und verstärken somit auch das auffällige Verhalten. Die Struktur des Schultags muss jedoch abwechslungsreich gestaltet werden, da die betroffenen Kinder überfordert sind, wenn sie sich lange Zeit mit der gleichen Aufgabe oder dem gleichen Spiel beschäftigen müssen. Häufige Pausen, die auch außerhalb des Schulgebäudes verbracht werden, sind dementsprechend notwendig, um den Kindern die Gelegenheit zu geben, neue Kräfte zu sammeln. DÖPFNER et al. weisen jedoch in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass "sehr intensive Bewegungsmöglichkeiten [führen] eher zu einer Zunahme der Unruhe“ (DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH 1997, 193) anstatt zu einer Beruhigung der Kinder führen können.

Es werden außerdem Verhaltensregeln für den Umgang des Pädagogen mit einem Schüler mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung formuliert.

Demnach soll darauf geachtet werden, Aufforderungen an den Schüler und Grenzsetzungen zuerst genau zu überdenken und anschließend wirkungsvoll zu formulieren. Das bedeutet konkret, dass Aufforderungen, von denen schon vorher absehbar ist, dass der Schüler sie nicht befolgen kann und wird, nicht gestellt werden. Ebenso verhält es sich mit Grenzen, die nicht eingehalten werden können. Erfährt das Kind, dass der Pädagoge in diesem Fall nicht auf die Einhaltung der Regeln besteht, so kann es dieses auch auf andere Situationen übertragen, bis Aufforderungen generell nicht mehr befolgt werden. Das wiederum bedeutet Unsicherheit auf Seiten des Kindes, da keine wirkungsvollen Grenzen bestehen, was als Folge eine Verstärkung des unerwünschten hyperaktiven Verhaltens nach sich ziehen kann.

Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die genaue Beobachtung des Schülers durch den Lehrer, damit dieser positive Verhaltensansätze erkennen und durch Lob und Zuwendung verstärken kann. Auf diesem Weg kann die weiter oben beschriebene Hauptproblematik des pädagogischen Umgangs mit Kindern mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung abgebaut und auf längere Sicht eine günstige Verhaltensveränderung erreicht werden. Dementsprechend sollten aus dem unerwünschten Verhalten konsequent negative Folgen resultieren, damit das Kind die Möglichkeit bekommt, zu erkennen, welches Verhalten gut und welches Verhalten als unangenehm empfunden wird.

Auch Elemente der Eltern-Kind-Therapie, die DÖPFNER et al. entwickelt haben, sind im Unterricht anwendbar. Für die Schule für Geistigbehinderte können sie nach geringer Modifikation ebenfalls übernommen werden. Im Anhang dieser Arbeit werden drei Komponenten vorgestellt und ggf. für die Gruppe der Kinder mit einer geistigen Behinderung modifiziert: die "Spaß & Spiel-Zeit“, der "Punkte-Plan“ und der "Wettkampf um lachende Gesichter“.

Insgesamt kann gesagt werden, dass das Therapieprogramm, das sich hauptsächlich auf die therapeutische und die Familiensituation bezieht, auch sehr interessante und hilfreiche Anregungen für den (Sonder-) Pädagogen bietet. Neben der Darstellung vieler einzelner Therapie- und Interventionsmöglichkeiten, wird jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine multimodale Therapie, die sich aus individuell unterschiedlichen Elementen zusammensetzt, notwendig ist. Es wird die Dringlichkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Ärzten, Pädagogen, Eltern usw. aufgezeigt, die für das betroffene Kind Hilfe bringen kann.

 

Entspannungstechniken

In sehr vielen Arbeiten zum Thema Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung werden auch Entspannungsübungen als Interventionsform bei hyperaktiven Kindern angeführt. Auch in der schulischen Situation wird Entspannung oftmals eingesetzt, sei es vor oder nach einer anstrengenden Tätigkeit. Die Funktion von Entspannung kann die Beruhigung der Gruppe (z.B. nach dem Sportunterricht und vor den Leseübungen) oder aber auch die Erholung der Kinder (z.B. nach anstrengenden Matheübungen) sein. Gerade bei hyperaktiven und auch aggressiven Kindern haben Entspannungsübungen wie z.B. Meditation, die Progressive Muskelentspannung und imaginative Entspannungsmethoden günstige Auswirkungen auf das weitere Verhalten (vgl. PETERMANN 1996, 73 ff.).

Diese drei Formen der Entspannung sollen nun kurz vorgestellt werden:

Meditation:
In einem ruhigen Raum mit einer angenehmen Raumtemperatur, in dem man nicht gestört wird, setzen oder legen sich die Schüler in einer entspannten Körperhaltung auf den Boden. Es wird versucht, sich für eine bestimmte Zeit auf einen Klang oder ein Objekt zu konzentrieren (vgl. LINDEN 1993, 207). Diese Übung muss sehr genau vorbereitet und das Medium, auf das sich die Kinder einlassen sollen, muss gut ausgewählt werden, da ein Gelingen dieser Entspannungsübung ansonsten sehr unwahrscheinlich ist. Es gestaltet sich ohnehin sehr schwierig, eine Meditation bei Kindern mit einer geistigen Behinderung durchzuführen, da die Konzentrationsfähigkeit bei dieser Schülergruppe in der Regel eingeschränkt ist und störende Faktoren wahrscheinlich sind.

 

Progressive Muskelentspannung:
Diese Entspannungsübung kann jederzeit und überall durchgeführt und trainiert werden. Die Beteiligten kontrahieren für 1 bis 2 Minuten bestimmte einzelne Muskelgruppen des Bewegungsapparates und konzentrieren sich auf diese Kontraktion. Direkt daran anschließend wird versucht, die selbe Muskelgruppe für 3 bis 4 Minuten maximal zu entspannen. Diese Übung basiert auf der Annahme, dass sich zentralnervöse, mentale und periphere, muskuläre Prozesse gegenseitig beeinflussen und somit durch muskuläre Entspannung auch eine geistige Entspannung (und umgekehrt) erreicht werden kann (vgl. HAMM 1993, 246).

Imaginative Entspannung:
Imaginative Entspannungstechniken greifen auf Vorstellungsbilder und Geschichten zurück, die für die Zielgruppe spezifisch ausgewählt werden. Die Kinder gehen innerhalb der Entspannungsübungen auf eine Phantasiereise und haben hinterher die Gelegenheit, darüber zu sprechen (vgl. PETERMANN 1996, 84 ff.). Diese Methode macht den Kindern in der Regel sehr viel Spaß und kann, wenn sie gut vorbereitet ist, auch einen maximalen Erfolg bringen, denn die Bereitschaft der Kinder, von sich aus eine solche Übung durchzuführen (meistens fordern Kinder diese Übungen nach einmaliger Durchführung ein!), ist eine optimale Voraussetzung für die Entspannung. Im Anhang dieser Arbeit findet sich beispielhaft eine Möglichkeit der imaginativen Entspannung, die auch mit Kindern mit einer geistigen Behinderung durchgeführt werden kann.

Innerhalb einer Gruppe von Kindern mit einer geistigen Behinderung ist zu beachten, dass der Zeitraum der Entspannung sehr kurz gehalten werden muss. Gerade die Kinder mit gesteigerter Aktivität werden die Übung sonst nicht durchhalten können und der Spaß, den die meisten Kinder an Aktivitäten wie diesen haben, ginge verloren.